Zentrales Branchentreffen TREFFpunkt Gesundheitsindustrie 2023
Bausteine für eine zukunftsfähige Gesundheitsindustrie
Im Hinblick auf eine unerlässliche „Zeitenwende“ in der Gesundheitsbranche wurden auf dem TREFFpunkt Gesundheitsindustrie am 28. Juni 2023 vor allem die Themen Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Resilienzstrategien diskutiert sowie neue Schlüsseltechnologien vorgestellt.
Das Forum Gesundheitsindustrie wird zum TREFFpunkt Gesundheitsindustrie: Seit diesem Jahr gilt die neue Bezeichnung für das zentrale Branchentreffen der Medizintechnik, Pharmazeutischen Industrie und Biotechnologie aus Baden-Württemberg zur besseren Abgrenzung gegenüber dem interministeriellen Strategieprozess Forum Gesundheitsstandort. Wie bisher, wurden auf der eintägigen Veranstaltung aktuelle Themen und Trends aufgegriffen und branchenübergreifend diskutiert.
Der Physiker Ingolf Baur eröffnete als Moderator die Veranstaltung mit schlechten Nachrichten: 15 Mio. Einweginstrumente landen in deutschen Krankenhäusern jährlich im Müll, der Anteil des Gesundheitswesens an der Gesamtemission Deutschlands beträgt 5,2 Prozent und liegt damit beispielsweise über dem des Flugverkehrs. „Man kann das positiv sehen: da lässt sich in der Branche einiges bewegen.“ Da Baden-Württemberg die Klimaneutralität bis 2040 anstrebt, wie Ministerin Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut in ihrer Videobotschaft hervorhob, steht die als Leitindustrie im Land geltende Gesundheitswirtschaft vor großen Herausforderungen. Zusätzlich müssen klimabedingte Veränderungen, Ressourcenverknappung sowie instabile Lieferketten und neue regulatorische Vorgaben bewältigt werden.
Wie lassen sich zukünftig ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit vereinen?
Keynote-Sprecher Dr. Eike Wenzel, Gründer und Leiter des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung (ITZ) aus Heidelberg, betonte zunächst, dass bei den Prozessen auch immer die soziale Komponente eingeschlossen werden müsse. Sein Institut hat 15 Megatrends identifiziert, die in den nächsten 30 bis 50 Jahren wichtig sein werden; zwei Drittel davon haben einen Bezug zum Thema Nachhaltigkeit. Klimawandel, Energiewende und Ungleichheit lassen sich nur mit guten, grünen Jobs bewältigen. Im Gesundheitsbereich wird die Digitalisierung eine immer größere Rolle spielen, sie kann eine gute Vernetzung ermöglichen und bietet Chancen für Innovationen sowie mehr Nachhaltigkeit.
Maßnahmen sind für große Unternehmen oft leichter umsetzbar
In der nachfolgenden Paneldiskussion „Erfolgsfaktor Nachhaltigkeit“ wurde klar, dass vor allem große Unternehmen schon sehr aktiv sind. Bei Philips Medizin Systeme Böblingen GmbH steht die Kreislaufwirtschaft im Vordergrund. „Wir müssen Wirtschaftsmodelle neu denken“, forderte Dominique Pfeiffer, Program Manager Sustainability im Bereich Patientenüberwachungssysteme. „Ein Gerät, das nicht hergestellt und transportiert wird, ist die größte Einsparung überhaupt.“ Für lange Nutzungszeiten sind aber ausreichend Ersatzteile erforderlich; deren Produktion wird durch das Verbot von Substanzen wie beispielsweise PFAS (Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen) jedoch immer schwieriger und gefährdet die Versorgungssicherheit. Vor allem kleine Hersteller sind damit oft überfordert. Philips will bis 2025 25 Prozent seines Umsatzes durch zirkuläre Produkte und Dienstleistungen in diesem Zusammenhang generieren.
Dr. Melanie Schober von der Agilent Technologies Deutschland GmbH schilderte, dass das Thema Nachhaltigkeit bereits eine große Rolle im Verkauf spiele. Das Unternehmen für analytische Instrumente schaut sich die Lieferketten genau an und hat im Zuge des NetZero Commitments eine Zertifizierung als Green Lab für sein Demonstrationslabor in Waldbronn erhalten. „Wenn wir Supplier bleiben wollen, dann müssen wir unsere Produkte anpassen, da unsere Großkunden immer mehr auf Nachhaltigkeit achten“, führte die Verkaufsleiterin aus. Aus diesem Grund habe auch Agilent begonnen, gebrauchte Geräte nach gründlicher Überholung erneut anzubieten.
Der ESG (Environmental Social Governance) Manager des High-Tech Gründerfonds Dr. Adrian Fuchs gab zu bedenken, dass kleine Start-ups mit zwei bis drei Personen bereits durch die zunehmende Regulatorik sehr stark gefordert seien. Aufgrund des Green Deals werde das Thema Nachhaltigkeit zukünftig aber vermehrt eine Rolle beim Assessment spielen und sollte idealerweise von Beginn an Teil der Unternehmenskultur sein.
Dr. Tobias Hackmann vermeldete, dass die Roche Pharma AG ihre Treibhausgasemissionen bereits halbiert habe und ebenfalls bis 2050 das Netto-Null-Ziel anstrebe. Neben einfach umsetzbaren Maßnahmen, den sogenannten „Low-Hanging-Fruits“, investierte das Unternehmen beispielsweise in Mannheim in einen Solarpark und den größten Kaltwasserspeicher Deutschlands zur Kühlung.
Kann Nachhaltigkeit sich selbst finanzieren?
Diese Frage bejahte Dr. Anne Hübner von KLUG, der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V., nachdrücklich. „Wenn man nicht-investive Maßnahmen umsetzt und gleichzeitig eine Kostenstelle für Nachhaltigkeit schafft, dann sieht man konkret, wieviel Geld eingespart wurde und kann dies für investive Maßnahmen einsetzen.“ Vor allem in den Kliniken müsse die Entwicklung der letzten Jahrzehnte zu immer mehr Einwegprodukten rückgängig gemacht werden. Diese schädigten zwar nicht die Patientinnen und Patienten, aber Menschen an anderen Orten der Welt. In der Pandemie hätte sich außerdem gezeigt, dass regional produzierte, nachhaltige Produkte auch Sicherheit schaffen könnten, da sie weniger von Lieferengpässen betroffen seien. Schober stimmte zu: „Nachhaltigkeit geht auf jeden Fall mit Effizienz einher.“
Für die Zukunft sahen sowohl Hackmann als auch Hübner die Gefahr, dass Arbeitgeber nicht mehr die besten Arbeitskräfte bekämen, wenn sie nicht auf den drei Gebieten Ökologie, Ökonomie und Soziales nachhaltig aktiv seien.
Der kurzweilige Science Slam von Klimaforscher Dr. Christian Scharun über das Treibhausgas Methan, das nicht nur von Kühen ausgestoßen, sondern auch bei der Förderung von Öl und Erdgas in der Nordsee freigesetzt wird und sich von dort global verbreitet, rundete das Programm vor dem Mittagessen ab. Scharun verdeutlichte die Notwendigkeit, sich Daten immer genau anzuschauen und zu hinterfragen. Im Sinne aller Teilnehmenden betonte er abschließend: „Der Klimawandel ist das größte Problem, vor dem wir gerade stehen. Alle müssen sich verändern, es gibt eine Zeitenwende, denn unsere Erde ist alles, aber sie ist nicht egal.“
Schlüsseltechnologien in der Medizin
Zu Beginn der Nachmittagssession griffen Prof. Dr. Ralf Kindervater, Geschäftsführer der BIOPRO Baden-Württemberg, und Prof. Dr. Ute Schepers vom neu gegründeten Center of Health Technologies des Karlsruher Instituts für Technologie (KITHealthTech) das Thema Digitalisierung im Gesundheitswesen wieder auf. „Das Vertrauen der Patienten in neue Digitaltechnologien ist sehr, sehr schlecht. Aber das Vertrauen in den Hausarzt ist groß“, führte Schepers aus. Deshalb hat sich das KITHealthTech für eine Bottom-up-Strategie entschieden, um den digitalen Wandel von Medizintechnologien, Personalisierter Medizin und Patientenversorgung voranzutreiben. Im Rahmen der Modellregion KARE (Karlsruhe Region of Health Technologies) werden die Bürgerinnen und Bürger über ihre Hausärztinnen und Hausärzte angesprochen und die erhaltenen Datensätze für Gesundheitsinformation und Prävention genutzt.
Nachfolgend wurden dann vier Beispiele für den Einsatz unterschiedlicher Schlüsseltechnologien vorgestellt: Prof. Dr. Jens Anders von der Universität Stuttgart sprach über Quantensensoren, die bedeutend schneller und empfindlicher sind als herkömmliche Sensoren und beispielsweise in der Krebsfrüherkennung, der MRT-Diagnostik oder für intelligente Prothesen verwendet werden können. Dipl. Ing. Vilma Methner von der OPTIMA pharma GmbH erläuterte, wie im Projekt ProCell for Patient eine automatisierte CAR-T-Zell-Produktion für die Personalisierte Krebstherapie entwickelt werden soll. Dr. Thomas Velten vom Innovationscluster INTAKT des Fraunhofer-Instituts für Biomedizinische Technik beschrieb eine neue Basistechnologie für interaktive Mikroimplantate. Und im letzten Vortrag zeigte Prof. Dr. Nadine Ziemert von der Universität Tübingen das Potenzial computergestützter Naturstoffgenomik (Genome Mining) zur Identifizierung neuer Antibiotikaklassen auf.
Innovationen als Grundlage für Resilienz
Nach einer stärkenden Kaffeepause gab Florian Süssenguth, Leiter der Geschäftsstelle Zukunftsrat des Bundeskanzlers, acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften e.V., Impulse zu zukünftigen Strategien für Krisensicherheit und Resilienz. „Resilienz ist ein fortwährender, laufender Prozess und kein einmaliger Kraftakt.“ Er führte aus, dass Innovationen nicht nur für erhöhte Wertschöpfung und Wohlstand wichtig seien, sondern auch für mehr Souveränität und Handlungsfähigkeit. Dadurch erleichterten sie die Bewältigung von Schockereignissen bzw. dienten der besseren Vorbereitung. Leider schränke das regulatorische Umfeld in Deutschland Innovationen häufig ein, aber „die Opportunitätskosten bei Nutzungsverzicht können wir uns nicht mehr leisten“.
In der anschließenden Paneldiskussion wies Prof. Dr. Klaus Lang-Koetz vom Institut für Industrial Ecology der Hochschule Pforzheim darauf hin, dass es gerade in Krisenzeiten schwierig sei, die Balance zwischen Tagesgeschäft und Innovation zu halten. Als besondere Herausforderung für die Gesundheitsindustrie sah auch er die speziellen Regularien. Dr. Barbara Jonischkeit von der BIOPRO Baden-Württemberg führte aus, dass die Hersteller aufgrund der neuen Verordnungen über Medizinprodukte (MDR) und In-vitro-Diagnostika (IVDR) in den letzten Jahren so mit der Neuzulassung bestehender Produkte beschäftigt gewesen seien, dass keine Kapazitäten für Innovationen blieben.
Dr. Julia Schaft vom BioRN Network sah bei vielen Start-ups in der Biotech- und Pharmabranche die Finanzierung als große Herausforderung. Dies bestätigte Prof. Dr. Gerald Huber, mehrfacher Gründer im Gesundheitswesen. Während der Finanzierungsrunden seien große Teile der Firmen mit Formalitäten blockiert, da bliebe keine Zeit für Innovationen. Jonischkeit wies in diesem Zusammenhang auf das BW Pre-Seed Programm hin, das beim Switch von Förderung zu Finanzierung unterstütze.
Im Hinblick auf die Digitalisierung forderte Süssenguth eine Homogenisierung der Auslegung der Datenschutzgrundverordnung über die Bundesländer hinweg. Lang-Koetz und Huber waren sich einig, dass viele Menschen ihre Daten zur Verfügung stellen würden, wenn für sie ein konkreter Nutzen ersichtlich wäre. Dieser könne in sogenannten Reallabors, also zeitlich und sachlich begrenzten Anwendungssystemen, vermittelt werden.
Wie können Innovationen gefördert werden?
„Innovation ist nicht planbar“, erklärte Lang-Koetz. Deshalb müssten die Mitarbeitenden Freiräume erhalten, um über den Tellerrand hinausschauen zu können. Aber für Resilienz sei auch Innovationsmanagement erforderlich, ergänzte Huber. Schaft hob hervor, dass bei Start-ups Innovationen an der Tagesordnung seien, die Unternehmen für die Ausbildung von Resilienz aber vor allem Flexibilität benötigten. Mit dem von BioRN initiierten Coworking-Space BioLabs in Heidelberg seien hierfür beste Voraussetzungen gegeben.
Aufgrund der Vielzahl an aktuellen Themen soll der TREFFpunkt Gesundheitsindustrie in Zukunft jährlich stattfinden. Die nächste Veranstaltung am 11. Juni 2024 in Ulm werden die BIOPRO Baden-Württemberg und das BioPharma Cluster South Germany gemeinsam ausrichten.
© BIOPRO Baden-Württemberg GmbH, Fotograf: Werner Kuhnle